BDP Mitgliederreise nach Argentinien (2013) – Bericht

Im März weilten die beiden Gruppen von BDP-Mitgliedern und interessierten Psychologen in Bunos Aires und absolvierten das umfangreiche zertifizierte Fachprogramm. Im Rahmen des Fachprogramms wurden Interviews sowohl mit Psychologen, die in eigener Praxis arbeiten, als auch mit Psychologen, die in Kliniken arbeiten, geführt. Alle Gespräche wurden auf spanisch geführt und von Frau Frauke Nees übersetzt.

Wir erfuhren von Leonardo Perelis, der in einem öffentlichen Krankenhaus arbeitet, dass in acht von zehn Fällen die eigentliche Ursache nicht eine psychische Störung, sondern Armut sei.

Tomoko Arakaki berichtete von ihrer Krankenhausbteilung, in der mit Parkinson-Patienten Tango getanzt wird, wodurch gute Fortschritte erzielt würden. Dieses Projekt wird von einer kanadischen Psychologin wissenschaftlich begleitet.

Weiterhin gab es Gespräche mit zwei Organisationen, die sich zu Zeit der Militärdiktatur gegründet haben, um ihre „verschwundenen“ Kinder bzw. Enkel zu suchen und die Verurteilung der Täter zu fordern.

„Madres de Plaza de Mayo“ ist eine Organisation von Müttern, die sich bereits 1977 zusammengetan haben, um auf ihre „verschwundenen“ Kinder aufmerksam zu machen. In der Militärdiktatur von 1976 bis 1983 wurden ca. 30.000 Menschen, meist Oppositionelle, entführt, in Konzentrationslagern gefoltert und ermordet. Viele wurden betäubt aus Helikoptern ins Meer geworfen. Sie gehen bis heute von Montag bis Donnerstag in ihr Büro, um gemeinsam Gerechtigkeit, die Aufklärung der Taten und die Bestrafung der Schuldigen zu fordern. Einer der größten Prozesse läuft aktuell. Es werden 789 Fälle verhandelt mit 68 Beschuldigten. Zwischen 2008 und 2012 gab es 61 Prozesse mit 270 Schuldsprüchen (Die Zeit 29.11.2012). Im März dieses Jahres wurde der frühere argentinische Diktator Bignone erneut zu lebenslanger Haft verurteilt (Die Zeit 13.3.2013).
Ausserdem setzen sich die „Madres“ ein gegen Hunger und Armut sowie für Bildung und Freiheit. Ein aktuelles Projekt ist die Einrichtung eines Frauenhauses, für Frauen und ihre Kinder, die von häuslicher Gewalt betroffen sind.

Gespräch mit der Organisation Madres de Plaza de Mayo - Mercedes de Meroño

Gespräch mit der Organisation Madres de Plaza de Mayo - Mercedes de Meroño

Für die „Madres“ leben ihre Kinder weiter, in dem sie weiterhin kämpfen für die Träume und Ziele ihrer Kinder. Jeden Donnerstagnachmittag laufen sie auf dem Plaza de Mayo vor dem Präsidentenpalast seit 1977 dreißig Minuten stumm im Kreis, weil Versammlungen und Proteste im Stehen seinerzeit verboten waren. Die Mütter seien von vielen Psychologen aus der ganzen Welt befragt worden, um ihre erstaunliche Widerstandskraft zu untersuchen. Mercedes de Meroño, eine der „Madres“ berichtete von der Interpretation eines Psychologen, das Laufen entgegen dem Uhrzeigersinn entspräche dem Laufen gegen die Zeit und damit gegen den Tod. Ihr Handeln sei damals sehr gefährlich gewesen und drei ihrer Anhängerinnen seien ebenfalls „verschwunden“. Die Frauen haben jedoch weiterhin demonstriert. Die Militärs mussten dies aufgrund ihres gewaltlosen Protests dulden.

Die fast 88jährige Mercedes de Meroño, die, weil sie kaum noch sehen kann, von einem jungen Assistenten am Arm geführt wird, beeindruckt tief mit ihrer positiven Energie und ihrer kämpferischen Haltung. Die „Madres“ gewännen ihre Kraft daraus, sich zusammenzuschließen und sich gemeinsam für ihre Ziele einzusetzen. Das sei ihre Form von Widerstand. Ihr Wunsch ist, dass die Liebe den Hass besiegen möge.

Die „Abuelas de Plaza de Mayo“ haben das Auffinden ihrer Enkel zum Ziel, die zur Zwangsadoption an militärnahe Familien freigegeben worden waren. Im Gespräch hat Marcos Taricco, ein Mitarbeiter der Beratungsstelle, das Recht auf Identität betont und erklärte ausführlich, warum man um seine Herkunft und Wurzeln wissen müsse, um frei zu sein. Es kam zu starken Reaktionen, als er davon erzählte, dass Personen auf Anordnung des Gerichts eine Blutprobe abgeben müssen, wenn der begründete Verdacht besteht, dass sie nicht die leiblichen Kinder ihrer Eltern sind. Falls diese sich weigern, werden Kleidung und Zahnbürste beschlagnahmt, so berichtet er, um die DNA feststellen zu können. Darüber sowie über den existierenden Schwarzmarkt, auf dem mit Kindern gehandelt wird, werden wir noch ausführlicher berichten.

Sowohl die Abuelas de Plaza de Mayo, als auch die Madres de Plaza de Mayo haben für ihre Arbeit den UNESCO Friedenspreis erhalten.

Fotos: © Michael Marek

In einem Workshop sowie mit dem Besuch einer Tangoshow und einer Milonga (Tangotanzabend) wurde den Teilnehmern näher gebracht , inwiefern sich im Tango Kultur und Gesellschaft widerspiegeln. In der Arbeit mit der Musik, dem eigenen Körper, einem selbst und dem Partner werden interessante Aspekte von Beziehung und Kommunikation erfahrbar und veränderbar. Schließlich bietet jede Begegnung mit einer fremden Kultur die Möglichkeit, der Horizonterweiterung und Inspiration, wenn man bereit ist, sich auf das Fremde einzulassen. So lernen wir, dass die stolze männliche und weibliche Haltung in diesem Tanz Spannung in die Paarbeziehung bringt und herausfordert.

Fotos: © Michael Marek

Argentinien sei ein Dritte-Welt-Land, so sprechen die Argentinier über sich selbst. Das ist mit Scham und Unbehagen verbunden, das auch unter der stolzen Haltung der Argentinier immer durchschimmert. Das Volk wurde durch viele Krisen erschüttert. Alles ist provisorisch und durch die hohe wirtschaftliche Instabilität kann man eigentlich nicht im Voraus planen. Das Leben funktioniert alles andere als perfekt und man braucht wahre Improvisationskünste und viel Gelassenheit, um im harten Alltag zu überleben. Aber in einem der schönen Kaffeehäuser aus alten, wohlhabenden Zeiten oder in der Nacht und mit den Lichtern der Stadt, wird die hässliche Realität unsichtbar und man genießt das Leben, geht Essen und schwingt bis zum Morgengrauen das Tanzbein. Das gilt für Jung und Alt.

In Buenos Aires ist die höchste Psychotherapeutendichte der Welt, ähnlich New York. Ana Deligiannis, Psychotherapeutin in eigener Praxis, berichtet von 800 Psychotherapeuten pro 100.000 Einwohner in Buenos Aires. Wir diskutieren zusammen, warum die Psychoanalyse so stark vertreten ist und warum so viele Menschen zum Psychotherapeuten gehen.

Da es sehr komplex ist, müssen wir einen Blick in die Geschichte werfen. Immigration, die verlorene Heimat, das Gefühl, keine Wurzeln zu haben sowie Traumata durch die Militärdiktatur und Demütigung durch Kolonialisierung, Wirtschaftskrise und permanente wirtschaftliche Instabilität führen zu Verunsicherung und Identitätsproblemen.

Ana Deligiannis bezeichnet die permanente Suche danach, wer man ist, als kulturellen Komplex. Sie berichtet, dass die Argentinier sich selbst abwerten, was im Widerspruch stehe zu ihrer Überheblichkeit. Ein Teilnehmer bestätigte diese depressive Grundhaltung, die narzisstisch abgewehrt werde aus seiner Arbeit mit Patienten aus Argentinien. Ana Deligiannis beschreibt, wie schwierig sich die psychotherapeutische Arbeit gestaltet, wenn der Patient daran festhalten muss, grandios zu sein. Die stolze Haltung, wenn sie nicht auf echtem Selbstwertgefühl beruht, ist dann nur Fassade und steht einer Veränderung im Weg. Ana Deligiannis führt jedoch auch die hohe Kreativität ihrer Landsleute auf diese permanente Suche zurück. Eine starke Sehnsucht sowie das Bedürfnis nach Ausdruck ist allgegenwärtig.

Fotos: © Michael Marek

Das Einwandererland habe immer den Blick gen Europa gerichtet, so sei alles, was von Europa komme, mehr wert. Auch der Tango musste erst den Umweg über Paris machen, um im eigenen Land Anerkennung zu finden.
Buenos Aires war Anfang des 20. Jahrhunderts sehr wohlhabend. Viele der damals fortschrittlichen Ideen fanden in Argentinien besonderen Anklang - und Freud galt zu seiner Zeit als einer der modernsten Denker. Die Psychoanalyse fand Eingang in Argentinien durch die Einwanderer in den 40er/50er Jahren, die Schüler Freuds waren. Alles was aus Europa kam war schick. Und es war schick zum Psychoanalytiker zu gehen. Zu Zeiten der Militärdiktatur war die Psychoanalyse verboten, Bücher wurden verbrannt, viele Psychotherapeuten mussten das Land verlassen. Und doch war währenddessen und danach der Psychotherapeut oft eine der wenigen Personen, denen man vertrauen konnte.

Ana Rozenfeld, Psychoanalytikerin in eigener Praxis, erklärt die große Anzahl an Personen, die einen Psychotherapeuten aufsuchen mit dem Bedürfnis, aber auch der Lust, sich selbst zu verstehen und sich mit sich selbst zu beschäftigen. Sie sieht darin aber auch die Gefahr, dass daraus eine Anspruchshaltung, z.B. gegenüber dem Partner/der Partnerin entstehe, selbst gesehen zu werden, ohne selbst auch den Partner zu sehen. Sie beklagte mangelnde Toleranz und Durchhaltevermögen und erklärte so die hohe Scheidungsrate.

In den Privatpraxen mit z.T. relativ hohen Honoraren sieht man wohl eher auch Vertreter einer intellektuellen Schicht, die auf der Suche danach sind, wer sie sind. Es wird sehr positiv angesehen, sich mit sich selbst auseinanderzusetzen. In einem öffentlichen Krankenhaus hingegen, wo kostenfrei ambulant eine zeitlich begrenzte Psychotherapie angeboten wird, wird man eher Personen finden mit behandlungsbedürftigen psychischen Problemen.

Anfang des 20. Jahrhunderts war Argentinien eines der reichsten Länder der Welt und zog Einwanderer aus ganz Europa an. Bereits 1913 wurde die erste U-Bahn Lateinamerikas in Buenos Aires gebaut. Das Teatro Colon gehört zu den schönsten Opernhäusern der Welt mit einer einzigartigen Akustik, „zu gut“, wie Pavarotti gesagt haben soll.

Evita

Carl Goerdeler beschreibt in seinem Buch „Kulturschock Argentinien“ die Story der Argentinier wäre zu vergleichen mit der von Hans im Glück, der mit seinen Goldklumpen heimzieht und am Ende mit leeren Taschen ankommt.
Man wird von Argentinien vereinnahmt und es bleibt eine letztendlich unerklärliche Faszination für diese Menschen, diese ungewöhnliche Verbindung aus europäischer Herkunft und lateinamerikanischem Temperament. Argentinien ist und bleibt ein Rätsel, vor allem für die Argentinier selbst.

Fotos vom Besuch des Hospital Dr. J. M. Ramos Mejia (2013)

Fotos: © Michael Marek